Simone Weil (3. Februar 1909 in Paris; - 24. August 1943 in Ashford, England)
Anmerkung zur generellen Abschaffung der politischen Parteien
Aus dem Französischen von Esther von der Osten
ISBN 978-3-03734-059-2 diaphanes, Zürich-Berlin 2009



„Eine Partei regiert, alle anderen sind im Gefängnis.“

Somit ist der Totalitarismus die Erbsünde der Parteien auf dem europäischen Kontinent.

Nur das Gute ist ein legitimer Grund, etwas zu bewahren.

Die Demokratie, die Macht der größeren Zahl sind keine Güter. Sie sind Mittel zum Guten, die zu Recht oder zu Unrecht für wirksam gehalten werden.

Nur was gerecht ist, ist legitim, Verbrechen und Lüge sind es in keinem Fall.

1. Das es in dem Moment, wo das Volk sich eines seiner Willen bewusst wird und ihn äußert, keinerlei kollektive Leidenschaft gibt. 2. Das Volk seinen Willen hinsichtlich der Probleme des öffentlichen Lebens ausdrücken kann und nicht nur eine Wahl zwischen Personen zu treffen hat. Noch weniger eine Wahl zwischen verantwortungslosen Kollektivitäten. Der bloße Wortlaut dieser beiden Punkte zeigt, das wir nie etwas gekannt haben, das auch nur entfernt einer Demokratie ähnelt.


.. und alles, was dem Einzelinteressen entgeht, ist dem kollektiven Leidenschaften ausgeliefert, zu denen systematisch und offiziell ermunter wird.

1. Eine politische Partei ist eine Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft.
2. Eine politische Partei ist eine Organisation, die so konstruiert ist, dass sie kollektiven Druck auf das Denken jedes Menschen ausübt. Der ihr angehört.
3. Der erste und genau genommen einzige Zweck jeder politischer Partei ist ihr eigenes Wachstum, und dies ohne jede Grenze.

Zu 3. Merkmale sind Tatsachenwahrheiten für jeden ,der dem Leben der Parteien nähergekommen ist. Wo das Kollektiv die denkenden Wesen beherrscht.

Es handelt sich um die Umkehrung des Verhältnisses von Zweck und Mitteln. Alle Dinge, die generell als Zwecke betrachtet werden, sind überall und ausnahmslos in ihrer Natur, per Definition, dem Wesen nach und in offenkundigster Weise allein Mittel.

Allein das Gute ist ein Zweck. Alles aus dem Reich der Tatsachen gehört der Ordnung der Mittel an.

Denn eine Konzeption des Gemeinwohls zu denken ist nicht leicht. – Die Existenz der Partei ist greifbar, evident; sie zu erkennen, verlangt keine Anstrengung.

Die notwendige und zureichende Bedingung dafür, dass die Partei wirksam der Konzeption des Gemeinwohls dient, um dessentwillen sie existiert, ist der Besitz einer großen Menge Macht.


Keine endliche Menge an Macht aber, zumal wenn sie einmal erlangt ist, kann je als zureichend gelten. Weil es ihr an Denken fehlt, befindet sich die Partei tatsächlich in einem fortwährenden Zustand der Ohnmacht, den sie stet der unzureichenden Menge an Macht zuschreibt, über die sie verfügt. Und wäre sie absolute Herrin über das Land, dann würden ihr die internationalen Zwänge enge Schranken setzen.


Gerad weil die Konzeption des Gemeinwohls irgendeiner Partei eine Fiktion, ein leeres Ding ohne Wirklichkeit ist, muss sie nach totaler Macht streben. Jede Wirklichkeit impliziert von selbst eine Grenze. Was gar nicht existiert, lässt sich niemals begrenzen.


Deshalb besteht eine Affinität, ein Bündnis zwischen dem Totalitarismus und der Lüge.

S. 18 - Sobald das Wachstum der Partei ein Kriterium des Guten darstellt, entsteht unweigerlich ein kollektiver Druck der Partei auf das Denken der Menschen.

Die Parteien sind Organismen, die öffentlich, offiziell so konstituiert sind, dass sie in den Seelen den Sinn für Wahrheit und Gerechtigkeit abtöten.

Das eingestandene Ziel der Propaganda ist Überredung und nicht die Verbreitung von Licht und Aufklärung.

Keine Partei lügt so dreist und behauptet, sich der Erziehung der Öffentlichkeit zu widmen und das Urteilsvermögen des Volkes zu bilden.

Hinsichtlich Sympathisanten, junge Leute, neue Mitglieder -, sprechen die Parteien allerdings durchaus von Erziehung. Dieses Wort ist eine Lüge. Es handelt sich um eine Dressur, um den viel rigoroseren Zugriff vorzubereiten, den die Partei auf das Denken ihrer Mitglieder ausübt.


„Wann immer ich mich mit einem politischen oder sozialen Problem befasse, verpflichte ich mich, die Tatsache, dass ich Mitglied jener Gruppe bin, völlig zu vergessen und mich ausschließlich um das Gemeinwohl und die Gerechtigkeit zu sorgen.

S. 21 – Ein Mensch, der sich nicht zu ausschließlicher Treue zum inneren Licht entschlossen hat, richtet die Lüge mitten in der Seele ein. Die Strafe ist innere Finsternis.

Von diesen drei Formen von Lüge – gegenüber der Partei, gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber sich selbst – ist die erste bei weitem die harmloseste. Wenn aber die Zugehörigkeit zu einer Partei immer und in jedem Fall zur Lüge zwingt, dann ist die Existenz der Parteien absolut und bedingungslos ein Übel.

Kein Leid jedoch erwartet den, der die Gerechtigkeit und die Wahrheit preisgibt. Wohingegen das Parteiensystem die schmerzlichsten Strafen für Ungehorsam bereithält. Strafen, die fast alles treffen – Karriere, Gefühle, Freundschaft, das Ansehen, den äu0ßerlichen Teil der Ehre, nachmal sogar das Familienleben. Die kommunistische Partei hat dieses System zur Vollendung gebracht.


Selbst bei dem, der innerlich nicht nachgibt, verfälscht die Existenz von Strafen unweigerlich das Urteilsvermögen.

Wahrhaftige Aufmerksamkeit ist ein Zustand, der für den Menschen so schwierig ist, von solcher Gewalt, dass jede persönliche Störung der Empfänglichkeit sie durchkreuzt. Daraus folgt die zwingende Verpflichtung, das Urteilsvermögen, das man in sich trägt, so weit es nur geht gegen den Tumult der persönlichen Hoffnungen und Befürchtungen zu schützen.


S. 26 - Die Parteien sind ein fabelhafter Mechanismus, der bewirkt dass über ein ganzes Land hinweg nicht ein einziger Geist seine Aufmerksamkeit der Anstrengung widmet, in den öffentlichen Angelegenheiten das Gute, die Gerechtigkeit, die Wahrheit zu erkennen.


Daraus ergibt sich – von ganz wenigen Zufällen abgesehen -, dass nur Maßnahmen beschlossen und durchgeführt werden, die dem Gemeinwohl, der Gerechtigkeit und der Wahrheit entgegenstehen.

Wie soll man Aussagen zustimmen, die man nicht kennt? Man braucht sich nur bedingungslos der Autorität zu unterwerfen, von der sie ausgehen.

Deshalb will Thomas von Aquin seine Aussage nur mit der Autorität der Kirche stützen und jedes andere Argument ausschließen. Denn, sagt er, mehr braucht es nicht für jene, die sie annehmen; und kein Argument könnte den überzeugen, der sie ablehnt.

Das innere Licht der Evidenz, dieses Urteilsvermögen, das der Menschenseele als Antwort auf ihr Verlangen nach Wahrheit von oben gewährt ist, wird somit in den Dreck geworfen. Zu knechtischen Aufgaben wie dem Addieren verurteilt, wird es von allem ausgeschlossen, was nach der spirituellen Bestimmung des Menschen sucht. Was das Denken bewegt, ist nicht mehr das unbedingte, nicht definierte Verlangen nach Wahrheit, sondern das Verlangen, mit einer vorab etablierten lehre konform zu gehen.


S. 28 – die auf dem Spiel der Parteien gründet, Jed von ihnen ist ein kleine profane Kirche und verfügt über die Waffe der Exkommunikationsandrohung. Der Einfluss der Parteien hat das gesamte Geistesleben unserer Zeit verseucht.

„Ich bin mit der Partei in diesem, diesem, diesem Punkt einverstanden; ich habe ihre anderen Positionen nicht überprüft und behalte mir voll und ganz meine Meinung vor, solange ich sie nicht untersucht habe.“

„Als Monarchist, als Sozialist meine ich, dass…“ Das ist so bequem! Denn es heisst , nicht zu denken. Es gibt nicht Bequemeres als nicht zu denken.

Man gibt zu, dass der parteiengeist blind macht, dass er taub macht für die Gerechtigkeit und dass er selbst Rechtschaffene Leute zum grausamsten wüten gegen Unschuldige hinreißt. Man gibt es zu, doch man denkt nicht daran, die Organismen abzuschaffen, die einen solchen Geist fabrizieren.


Dennoch gibt es Leute, die von Betäubungsmitteln abhängig sind. Doch gäbe es mehr, wenn der Staat den Verkauf von Opium und Kokain in allen Tabakläden organisierte und die Konsumenten mit Werbeplakaten ermunterte.

Doch diese Milieus müssten im Fließen gehalten werden. Gerade dieses Fleißende unterscheidet ein Milieu der Geisterverwandtschaft von der Partei und hindert es an einer schlechten Einflussnahme.

es gibt keine klare Trennung zwischen drinnen und draußen. Weiterhin gibt es jene, die die Zeitschrift lesen und einen oder zwei Leute kenne, die darin schreiben. Ferner schöpfen die regelmäßigen Leser Anregungen daraus.


Wenn eine Zeitschrift ihre Mitarbeiter unter Androhung des Bruchs daran hinderte, an anderen Publikationen mitzuarbeiten, gleich welchen, müsste sie abgeschafft werden, sobald die Tatsache erweisen ist.

S. 33 – Die heilsame Wirkung, die von der Abschaffung der Parteien ausginge, würde weit über die öffentlichen Angelegenheiten hinausreichen. Denn der Parteiengeist verseucht mittlerweile alles.

Die Institutionen, die das Spiel es öffentlichen Lebens bestimmen, beeinflussen stets das gesamte Denken in einem Land, weil die Macht solches Ansehen hat.

Es ist so weit gekommen, dass man überall fast nur noch denkt, indem man „für“ oder „gegen“ eine Meinung Stellung bezieht. Daraufhin sucht man nach Argumenten, je nachdem, pro oder contra. Das ist die genaue Übertragung der Parteienzugehörigkeit.

Andere, die für eine Meinung Stellung bezogen haben, weigern sich, irgendetwas in Betracht zu ziehen, das ihr widerspräche. Das ist die Übertragung des totalitären Geistes.

ist die Operation des Partei-Ergreifens, der Stellungnahme für oder gegen etwas an die Stelle der Operation des Denkens getreten.

Diese Pest ist den politischen Milieus entsprungen und hat sich über das ganze Land fast auf das gesamte Denken ausgebreitet.

S. 39 – mit zunehmender Skepsis sah Simone Weil, die eine politische Position zwischen Anarchismus, Pazifismus und Syndikalismus vertrat, die russische Revolution als gescheitert an.

„Da empfand ich ganz plötzlich die Gewissheit, dass das Christentum schlechthin die Religion der Sklave ist, dass Sklaven gar nicht anderes können, als ihr anzugehören, und ich mit ihnen.


„Wir alle verfolgen, Tag für Tag, besorgt und mit Beklemmung, den Kampf, der sich auf der anderen Seite der Pyrenäen abspielt. Wir haben es uns zu Aufgabe gemacht, den Unseren beizustehen. Aber das hindert uns nicht, das befreit uns nicht davon, aus einer Erfahrung Lehren zu zeihen, die so viele Arbeiter und Bauern dort untern mit ihrem Blut bezahlt haben. Wir haben in Europa bereits eine ähnliche Erfahrung gemacht, die ebenfalls viel Blut gekostet hat. Das ist die russische Erfahrung. Lenin hat damals öffentlich einen Staat angekündigt, bei dem sich Armee, Polizei und Bürokratie nicht mehr von der Bevölkerung abtrennen sollten.


„Die Erfordernisse und die Atmosphäre des Bürgerkriegs tragen den Sieg über die Ideal davon, die man mit dem Mittel des Bürgerkriegs zu verteidigen sucht..“

Weil wir nicht aufhören, Partei zu ergreifen für die Unterdrückten, die Sklaven, und sie wird nicht aufhören, in immer schärferen Sätzen gegen die Parteien, diese Maschinen „zur Eroberung und Ausübung der Macht“, zu protestieren und zu kämpfen.

S. 42 – Es sei „nicht gottes Wille, dass ich gegenwärtig in die Kirche eintrete.“ Sie führt diese „Hemmung „ zwar auf ihre eigenen Unvollkommenheit zurück, aber auch auf eine eingeschränkte Katholizität (von Kat holon: allumfassend) der Kirche selbst, die leicht in Totalitarismus umschlagen könne.

S. 46 – dass die Vernunft auf Gerechtigkeit und Ausgleich (und folglich auf Universalisierung) abziele, während jedes Verbrechen aus Leidenschaft (und folglich aus Partikularisierung) entspringe. Vernunft stiftet Gemeinsamkeit, Leidenschaft Differenz; daher sei der gemeinsame Wille dem einzelnen Willen überlegen.


das ein vernünftiger und gerechter Gemeinwille nur aus einer Vielzahl autonomer und unabhängiger Einzelentscheidungen hervorgehen kann.

Eine Partei sei eine „Maschine zur Fabrikation kollektiver Leidenschaft“ Sie unterdrückte die Individualität ihrer Mitglieder, einzig im Interesse eines unbegrenzten Wachstums.

Jedes Parteimitglied „unterwirft sein Denken der Autorität der Partei“, und in eben dieser Lage befinde sich auch ein „Anhänger der katholischen Orthodoxie“.